Peter Voß fragt Herfried Münkler: Der Große Krieg - Wer war schuld?

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Der Beginn des Ersten Weltkriegs, der Urkatastophe des 20. Jahrhunderts mit 17 Millionen Toten, jährte sich im Juli/August 2014 zum 100. Mal. Im Vorgriff erschien Ende 2013 das Buch des Politologen Herfried Münkler: „Der Große Krieg“, eine scharfsinnige Analyse des europäischen Weges in den Abgrund.

Wie konnte es dazu kommen, dass Europa in den Jahren 1914-18 in ein Inferno aus Blut, Gewalt, Seuchen, Hunger und Elend stürzte, das neun Millionen Soldaten und acht Millionen Zivilisten das Leben kostete und alleine in Deutschland fast drei Millionen verstümmelte und psychisch Versehrte produzierte? Wieso waren Deutschland und die anderen europäischen Staaten nicht fähig den Krieg zu einem Zeitpunkt zu beenden, als die Ausweglosigkeit der Lage klar wurde? Diese Ausgangsfragen stellt sich der Autor Herfried Münkler in seinem neusten Buch.

Die Antwort bedarf 800 eng bedruckter Seiten, denn sie ist vielschichtig. Münkler erarbeitet zunächst die Antwort auf die Frage „Wie schlitterte Europa in den Krieg?“, bevor er der Frage nach dem „Warum“ nachgeht. Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Münkler hält nicht viel von der Kriegsschuld des Deutschen Kaiserreichs. Er positioniert sich damit gegen einige Historiker, die sich 1961 mit dem Thema auseinandersetzen. Der profilierteste von ihnen, der Hamburger Historiker Fritz Fischer, sah „einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch eines Ersten Weltkrieges“ bei der deutschen Reichsführung. Deutschland habe den österreichisch-serbischen Krieg gewollt, gewünscht und gedeckt und habe auf seine militärische Überlegenheit vertraut, so Fischer.

Münkler zeichnet ein anderes Bild: Bestimmte gesellschaftliche Konstellationen und auch der Zufall hätten in den Krieg geführt. Historiker haben mit dem Zufall so ihre Probleme, und daher ist es nicht zufällig, dass Münkler aus der Politikwissenschaft stammt: „Das 20. Jahrhundert hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können, wenn es in Sarajevo nicht zu einer Verkettung unglücklicher Umstände gekommen wäre“, schreibt Münkler. Der Zufall soll für 17 Millionen Tote verantwortlich sein? Stefan Reinecke fragt zu recht in der taz: „Ist das überzeugend? Zwangsläufig ist kaum ein historisches Ereignis. (..) Das unübersichtliche Geflecht von Bedingungen, Zufällen, Interessen existiert ja fast immer.“

Doch schon Münklers Analyse des Kriegsanlasses, des Attentats auf den österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand, lässt aufhorchen. Ein erster Attentatsversuch am 28. Juni 1914 misslang. Eine Bombe, die auf seinen Wagen geworfen wurde, prallte am Verdeck ab und detonierte auf der Straße. Der Erzherzog blieb unverletzt und entschied, seinen Besuch fortzusetzen. Doch die Route sollte geändert werden, blieb dann aber bis zu dem Punkt, an dem der Attentäter stand, gleich. Genau an diesem Ort stoppte der Konvoi, um die Route zu ändern, und der Attentäter hatte nun bessere Chancen sein Ziel zu treffen. Zufälle über Zufälle, doch gottlob bleibt Münkler an diesem Punkt nicht stehen: Er analysiert, und hier ist das Buch am stärksten, die Binnenlogik der Akteure, ihre Ziele und legt da, warum die deutsche Regierung es nach Kriegsausbruch nicht schaffte, den Ansprüchen der Militärs entgegenzutreten.

Der Erste Weltkrieg sei „ein Kompendium für alles das, was man falsch machen kann“, so Münkler. Deswegen sei es so ungemein lehrreich, sich mit dem „Großen Krieg“ zu beschäftigen: Die Deutschen Intellektuellen hätten komplett versagt und einen Krieg mit überwiegender Mehrheit überschwänglich begrüßt. Der Schlieffenplan, also Besetzung des neutralen Belgien, habe Deutschland moralisch ins unrecht gesetzt und war Anlass für den Kriegseintritt Englands. Und auch die Entscheidung für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, die von den Militärs gegen die politische Führung durchgesetzt wurde und den Kriegseintritt der USA zufolge hatte, sind nur einige Beispiele für das Versagen der Eliten.

Münkler, der sparsam mit Vergleichen ist, die in die heutige Zeit hereinreichen, sieht Parallelen zwischen dem aufstrebenden Deutschen Reich und der rasch aufstrebenden Wirtschaftsmacht China heute. Beide seien nicht stark genug, um den Kontinent zu beherrschen, aber auch nicht schwach genug, um zu verstehen, dass sie auf Frieden angewiesen sind.
Alles in allem gelingt dem Autor eine monumentale und meisterliche Studie über die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Es ist die erste umfassende Studie über den Ersten Weltkrieg von einem deutschen Autor, die seit vielen Jahren herauskommen ist. Münkler versucht erfolgreich eine Lücke zwischen der These der „alleinigen Kriegsschuld“ der Deutschen und einer „alle sind Schuld“ These zu schießen.

Bild: Die ersten deutschen Soldaten überqueren zu Beginn des 1. Weltkriegs 1914 die französische Grenze.

Interviewer: Peter Voß (*28. Januar 1941), Intendant des SWR
aus der Reihe „Peter Voß fragt ...“

SWR, 2013
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Комментарии
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2 tolle Denker im Gespräch - sehr gerne mehr davon! 👏👍👏

chriwa
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Danke lieber Algorithmus, dass du das aus der tiefe YouTubes für mich rausgesucht hast. 🙏

ohhhSmooth
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Danke für die Einordnung von Fritz Fischer. Hab mich über diese märchenhafte Erzählung der Geschichte immer geärgert. Man wird von manchen öffentlichen Akteuren behandelt wie ein Kind...

andybeliever
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Angst und Überschätzung eigener Fähigkeiten sind schlechte Ratgeber. Danke auch von mir für dieses sehr gute Interview.

thomasthuy
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Niemand war schuld. So einfach ist das.

KarlPopper-xunj
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29:25 man sieht ja heute was hier loos ist.
Us und a machen soo viel.

svenschneider
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Bei diesem Gespräch sind einige neue Sichtweisen sichtbar. Mir fehlen einfach Beispiele und Quellen an dem die Ansichten zu untermauern sind. Sehr zu loben ist, das die Geschichte aufgearbeitet wird und die eingefahrene Darstellung im deutschsprachigen Raum neu beleuchtet wird. Ich sehe dies im Vergleich zum Buch von Herrn T. Schulte.

matthiasmach
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Also ich habe das Buch gekauft - hatte also Bedarf zu Wissen

xxxvvv
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Das erste Mal seit langem, dass ich einen "Mainstream" Vortrag in meinem Vokabukar gesehen habe

wacherwicht
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Zu diesem Thema unbedingt das Buch von Thorsten Schulte, Fremdbestimmt, lesen.

oliverkramss
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Ach Gott. Also war im Endeffekt doch das flatterhafte Nervenkostüm Ludendorffs schuld an der militärischen Niederlage? 😂

arturschlegel-kywt
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Frei von politischen Zwängen liefert Prof Münkler eine ausgezeichnete Analyse ab.
In Bezug auf aktuellen geopolitischen Krisen ist er voll auf der vorgeschrieben Linie und lässt jegliche Objektivität fahren.

peterberger