Liebe im Kapitalismus - Ein Vortrag von Bini Adamczak (2013)

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"Ware und Liebe sind Beziehungen, Beziehungsweisen, die zudem in inniger Beziehung zueinander stehen. In beiden maskiert sich eine gesellschaftliche Beziehung von öffentlichem Interesse als bloßes Privatverhältnis, als zweigliedriger Austausch von Dingen und Geld, von Obszönitäten und Zärtlichkeiten – oder beidem zugleich.

Als Austausch, jedenfalls, von Arbeit – Waren produzierender oder Arbeitskraft reproduzierender Arbeit; Lohnarbeit oder Liebesarbeit. In beiden Beziehungsweisen manifestiert sich eine erstaunliche Symbiose von Singularität und Universalität, privatester Privatheit und öffentlichster Öffentlichkeit. Die Ware beansprucht – trotz aller Serialität – als gebrauchswertiger Körper immer ein konkretes Bedürfnis zu befriedigen und trägt zugleich einen Preis, als Zeichen ihrer allgemeinen Austauschbarkeit.

Die vermeintliche Autonomie im Kapitalismus, die uns als Freiheit verkauft wird, entpuppt sich als Vereinzelung & Konkurrenz, die eine allseitige Abhängigkeit in ein Gefängnis der Einsamkeit verwandelt. Eine wahre Befreiung erfordert nicht die Steigerung individueller Autonomie im Sinne des Marktes, sondern die bewusste Rekonfiguration der kollektiven Abhängigkeiten in Formen der Solidarität & des Miteinanders. Das bedeutet, das Soziale als ein Ensemble von Beziehungen anzusehen, in dem sich die Einzelnen nicht gegen-, sondern miteinander entwickeln können.

Die strukturelle Knappheit des Kapitalismus ist kein Naturgesetz, sondern ein Resultat der Wertform, die konkreten Reichtum (Gebrauchswerte) nicht adäquat als abstrakten Reichtum (Wert) abbilden kann. Die "Rastlosigkeit" & das Gefühl des "nie genug" sind keine anthropologischen Konstanten, sondern psychische Auswirkungen einer Ökonomie, die auf unendliche Akkumulation von Wert & nicht auf die Befriedigung von Bedürfnissen ausgerichtet ist. Die Folgerung ist eine Ökonomie, die sich an der Fülle orientiert, an der Maximierung des Gebrauchswertes & der menschlichen Zeit, & nicht an der Entwertung von Arbeit &Produktivität zugunsten abstrakter Profitmargen. Dies erfordert die Entfesselung der Produktivkräfte von der Wertlogik & ihre bewusste Lenkung zur Schaffung eines luxuriösen Gemeinwesens für alle.

Die retroaktive Entwertung von Arbeitskraft & die Erfahrung der Austauschbarkeit, der Ersetzbarkeit & der existenziellen Angst offenbaren, dass der Kapitalismus dem menschlichen Subjekt seinen intrinsischen Wert abspricht. Wert wird erst nachträglich & leistungsgebunden zugesprochen – ein Zustand, der tiefgreifendes Misstrauen & Selbstzweifel sät. Eine emanzipatorische Gesellschaft muss den Wert des Menschen als *Sein* anerkennen, unabhängig von Leistung/Position/Marktbedürfnissen. Dies bedeutet die Schaffung von sozialen Garantien, die nicht nur materieller, sondern auch emotionaler Natur sind & die Angst vor Entwertung & Verlust aufheben. Es ist eine kollektive Verpflichtung zur Anerkennung der einzigartigen, unverwechselbaren Würde jedes Einzelnen.

Romantische Liebe ist das berührendste, aber auch tragischste Symptom der durch den Kapitalismus gerissenen affektiven Lücken. Sie ist überfordert, weil sie privat kompensieren soll, was nur kollektiv gelöst werden kann. Ihre Gewalt & ihr Scheitern sind nicht die Folge menschlicher Unzulänglichkeit, sondern der unmöglichen Aufgabe, die sie im kapitalistischen Gefüge übernehmen muss. Die Konsequenz ist nicht die Abschaffung der Liebe, sondern ihre Befreiung von ihrer kompensatorischen Bürde. Eine Gesellschaft, die Zärtlichkeit & soziale Sicherheit in ihre ökonomischen & politischen Strukturen integriert, würde die Notwendigkeit der Flucht in die rein private & überhöhte Romantik aufheben. Liebe könnte dann in ihrer Vielfalt und als freie Wahl gedeihen, entlastet von der existenziellen Last, alles sein zu müssen.

Nur wenn die gesellschaftlichen Beziehungen menschlich, zärtlich & solidarisch werden – und nicht länger dinglich, konkurrenzbetont & angstbesetzt –, kann die Liebe aus ihrem Gefängnis befreit werden. Dies erfordert eine umfassende Transformation, die sowohl die makro-strukturelle Ebene der globalen Ökonomie als auch die mikro-strukturelle Ebene der täglichen Interaktionen & Affekte umfasst. Die Befreiung der Liebe ist untrennbar mit der Befreiung der Gesellschaft von der Herrschaft des Kapitals verbunden.

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Adamczaks zentrale These ist, dass die Ähnlichkeit zwischen der kapitalistischen Warenbeziehung und der romantischen Liebesbeziehung keine Zufälligkeit, sondern eine historische und systematische Verwiesenheit aufeinander darstellt. Die Liebe fungiert dabei als eine Art "systemkonforme Füllung" jener affektiven Leeren, die der Kapitalismus durch seine Warenbeziehungen im sozialen Gefüge reißt.

In obigen Vortrag wird u.a. folgendes angemerkt:

1. *Das Konzept der „Beziehungsweise“ und der „affektiven Grundstruktur“:*
* Adamczak führt den Begriff der „Beziehungsweise“ ein, um die Analyse sozialer Verhältnisse jenseits der Dichotomie von großer Struktur (alter Linker Marxismus) und singulärem Subjekt (neuer Linker, Queer-Theorie) zu verorten. Eine Beziehungsweise ist weder rein objektiv noch rein subjektiv, weder Totalität noch Singularität. Sie ermöglicht die Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse mit Begriffen, die aus der Sphäre der Nahbeziehung stammen, und versteht emanzipatorische Politik als auf die Transformation dieser Beziehungen gerichtet.
* Der Begriff der „affektiven Grundstruktur“ verbindet individuelle Gefühle mit objektiven gesellschaftlichen Strukturen. Er beschreibt die affektive Aufladung einer sozialen Atmosphäre (z.B. Panik im Gefängnis) und wird genutzt, um das "Gefühl, im Kapitalismus zu leben" zu analysieren.

2. *Die affektive Tiefenstruktur der kapitalistischen Warenbeziehung:*
Adamczak seziert das "Gefühl, im Kapitalismus zu leben" anhand von drei Affektkomplexen:

* *a) Abhängigkeit vs. Autonomie:*
* *Die "Schönheit des Kapitalismus":* Er schafft eine allseitige Abhängigkeit aller voneinander. Menschen arbeiten für die Bedürfnisse anderer, und eigene Bedürfnisse werden durch die (oft unbezahlte oder unpersönliche) Arbeit anderer befriedigt.
* *Die "Hässlichkeit des Kapitalismus":* Diese Abhängigkeit wird nicht als Miteinander, sondern als individuelle Autonomie und allseitige Konkurrenz gegeneinander erlebt. Die Abhängigkeit artikuliert sich nicht von anderen Menschen, sondern vom Geld, das immer "knapp" ist.
* *Resultierende Affekte:* Getrenntheit, Einsamkeit (Warenmonaden), Ohnmacht/Hilflosigkeit gegenüber dem "Sachzwang" des gesellschaftlichen Zusammenhangs, Misstrauen und Feindseligkeit (Konkurrenz), und letztlich *Angst* vor Ressourcenknappheit.
* *b) Fülle vs. Mangel (Knappheit):*
* *Strukturelle Knappheit:* Der Kapitalismus ist eine "Mangelökonomie", die Knappheit nicht beheben, sondern strukturell immer wieder reproduzieren muss.
* *Dialektik von Gebrauchswert und Tauschwert:* Konkreter Reichtum (Güter) wächst enorm durch Produktivitätssteigerung, aber abstrakter Reichtum (Wert/Geld) spiegelt sich nicht adäquat wider oder sinkt sogar im Verhältnis zur gesteigerten Produktion (Bügeleisen-Beispiel). Die "Sprache der Ökonomie" kann ein Anwachsen des stofflichen Reichtums nur temporär oder gar nicht ausdrücken.
* *Resultierende Affekte:* Stress, Rastlosigkeit, Ungenügen, eine "zerstopfende Leere, " das Gefühl, nie genug zu haben oder geleistet zu haben, besonders verstärkt durch die Subjektivierung der Arbeit im Postfordismus.
* *c) Wert vs. Unwert (Sicherheit):*
* *Mangel an Sicherheit:* Der strukturelle Mangel an Sicherheit im Kapitalismus ist kein rechter, sondern ein emanzipatorischer Begriff, der soziale Sicherheit meint. Diese kann nie gewährleistet sein, da soziale Garantien nur "nachträglich" ausgestellt werden.
* *Retroaktive Temporalität des Wertes:* Der Wert einer Ware speist sich aus der *gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit*. Geleistete Arbeit, die über dieser Norm liegt, wird als "unsinnig verausgabt" behandelt und retroaktiv für "nicht stattgefunden" erklärt (Bügeleisen-Beispiel: alte Bügeleisen werden nachträglich entwertet, als wären sie mit neuer Technologie hergestellt worden).
* *Menschen als Waren (Arbeitskraft):* Auch für LohnarbeiterInnen gilt dieses Gesetz. Ihr Wert ist nicht intrinsisch, sondern muss durch beständige Leistung (Prüfungen, Bewerbungen) neu bewiesen werden und kann jederzeit entzogen werden. Wer gestern "kostbar" war, kann morgen "wertlos" sein.
* *Resultierende Affekte:* Austauschbarkeit, Ersetzbarkeit, Wertlosigkeit, existenzielle Angst vor Entwertung und Verlust der sozialen Position.

3. *Die romantische Liebe als Antwort auf die kapitalistischen Mängel:*
* Die Liebe gewinnt ihre Funktionalität im Kapitalismus, indem sie beansprucht, auf all diese affektiven Dispositionen eine Antwort zu geben:
* Auf Getrenntheit/Einsamkeit: romantische Zweisamkeit.
* Auf abstrakte Anonymität: konkrete, vertraute Beziehung.
* Auf Ohnmacht/Hilflosigkeit: überschaubare Nähe, Geborgenheit.
* Auf Misstrauen/Feindseligkeit: Vertrauen, Loyalität, Zärtlichkeit.
* Auf Mangel/Ungenügen: garantierte Fülle, umfassende Bedürfnisbefriedigung.
* Auf ehrliche Unersetzbarkeit ("Only You"), Wertschätzung ohne Leistungsbindung, für alle Ewigkeit (symbolisiert durch Liebesschlösser).

4. *Die systemische Überforderung der Liebe und ihre Begrenzungen:*
* Die Liebe ist ein "Substitut, " eine "systemkonforme Füllung." Sie kann ihre Versprechen nicht einlösen, da sie prinzipiell hoffnungslos überfordert ist.
* Ihre Privatisierung und Vereinzelung, sowie ihre Ausgrenzung von Fragen der materiellen Reproduktion, des Politischen, Ökonomischen und Rechtlichen, machen sie zu einem rein affektiven Verhältnis, das die durch die Warenbeziehung gestellten Probleme nicht lösen kann.
* *Konsequenz:* Diese Überforderung erklärt den häufig gewaltvollen, dramatischen und tragischen Verlauf von Liebesbeziehungen, da überzogene Erwartungen zwangsläufig zu Enttäuschungen führen.
* *Ideologische Funktion:* Die Liebe überwindet scheinbar die Vereinzelung, während sie die reale Trennung beibehält; sie lindert Symptome, während sie die Ursachen (den Kapitalismus) aufrechterhält.
* *Jedoch:* Wie jede gute Ideologie weist sie über ihre eigenen Bedingungen hinaus und verweist auf einen Zustand, in dem sie selbst nicht mehr nötig wäre, weil der Kapitalismus nicht mehr existiert.

5. *Die Lösung und die Forderung nach solidarischen Beziehungsweisen:*
* Die Probleme lassen sich nicht *innerhalb* der bestehenden Beziehungsweisen (Ware und Liebe) lösen, sondern nur durch deren Re-Konfiguration.
* Dies war das Ziel der Revolutionswellen des 20. Jahrhunderts (1917, 1968): das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, Reproduktion und Produktion, Liebe und Ware neu zu gestalten.
* *Abstrakte Forderung:* Pragmatik und Materialität müssten in leidenschaftliche Beziehungen einkehren, und Zärtlichkeit in die öffentlichen Beziehungen der Ökonomie, des Rechts und der Politik.
* *Alexandra Kolontai:* "Je zärtlicher die gesellschaftlichen Beziehungsweisen, umso geringer das Bedürfnis nach Flucht in die Beziehungsweise der romantischen Liebe." Dies impliziert eine Gesellschaft, in der soziale Sicherheit und Anerkennung nicht erst in der privaten Intimität gefunden werden müssen, sondern integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens sind.

TheNokturnalTimes
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Hallo ihr Lieben :) gibt es irgendwo auch eine Textversion dieses Vortrags? Ich würde den Text voll gerne ein paar Freund:Innen zeigen, allerdings sprechen sie hauptsächlich Englisch. Hoffe ihr könnt mir weiterhelfen :)
LG

NathiieTheMetalteddy
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So sympathisch mir Adamczaks Ansatz ist, die Gemeinsamkeiten von Beziehung und Ware aufzuzeigen, halte ich doch ihren Versuch für etwas dubios, zwanghaft ein: "Dazwischen" zwischen Individuen und Gesellschaft zu imaginieren, das in dieser Eigenschaft, weder individuell, noch gesellschaftlich zu sein, auf keine Weise irgendwie explizit erläutert wird. Was sich indirekt aus ihren Ausführungen über dieses: "Dazwischen" entnehmen läßt, klingt für mich stark und ziemlich eindeutig ganz einfach nach gesellschaftlichen Strukturen, die sich als Sozialcharakter ("affektive Strukturen") in den Invididuen abdrücken.

tlatosmd
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Weiß jemand wo man den Film "Message in a commodity", der im Vortrag erwähnt wurde, findet?

christiananonymus
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