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RAINER MARIA RILKE - AUS DEM STUNDENBUCH (Für Lou)

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Dichtung von Rainer Maria Rilke aus: Das Stundenbuch - Vom mönchischem Leben 1899-1903 /
Rezitation: Gert Westphal /
Anmerkung: Wer seines Lebens viele Widersinne versoehnt und dankbar in ein Sinnbild fasst,
der draengt die Laermenden aus dem Palast, wird anders festlich, und du bist der Gast, den er an sanften Abenden empfaengt. (R.M.Rilke)
Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.
Man fuehlt den Wind von einem grossen Blatt,
das Gott und du und ich beschrieben hat
und das sich hoch in fremden Haenden dreht.
Man fuehlt den Glanz von einer neuen Seite,
auf der noch Alles werden kann.
Die stillen Kraefte pruefen ihre Breite
und sehn einander dunkel an.
Ich lese es heraus aus deinem Wort,
aus der Geschichte der Gebaerden,
mit welchen deine Haende um das Werden
sich rundeten, begrenzend, warm und weise.
Du sagtest leben laut und sterben leise
und wiederholtest immer wieder: Sein.
Doch vor dem ersten Tode kam der Mord.
Da ging ein Riss durch deine reifen Kreise
und ging ein Schrein
und riss die Stimmen fort,
die eben erst sich sammelten
um dich zu sagen,
um dich zu tragen
alles Abgrunds Bruecke –
Und was sie seither stammelten,
sind Stuecke
deines alten Namens.
***
I am living now at the turn of the century.
One feels the fanning of a large page being turned
high up in unknown hands
that God and You and I have written on.
One feels the luster of a new page
on which all things can come about.
Quiet powers survey its breadth
then look at each other with gloomy eyes.
I have read it in Your words,
in the history of the gestures,
with which Your hands cupped things
that were becoming, limiting them, warm and wise.
You said live loudly and die softly
and kept on repeating: to be.
But before the first death a murder took place.
Then Your ripened circle was rent
and a shrine was no more
and the voices were wrenched apart,
that had just been brought together
to proclaim You
to make of You a bridge
over the chasm of all things —
And what they have stammered ever since
are pieces
of Your old name.
Rezitation: Gert Westphal /
Anmerkung: Wer seines Lebens viele Widersinne versoehnt und dankbar in ein Sinnbild fasst,
der draengt die Laermenden aus dem Palast, wird anders festlich, und du bist der Gast, den er an sanften Abenden empfaengt. (R.M.Rilke)
Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.
Man fuehlt den Wind von einem grossen Blatt,
das Gott und du und ich beschrieben hat
und das sich hoch in fremden Haenden dreht.
Man fuehlt den Glanz von einer neuen Seite,
auf der noch Alles werden kann.
Die stillen Kraefte pruefen ihre Breite
und sehn einander dunkel an.
Ich lese es heraus aus deinem Wort,
aus der Geschichte der Gebaerden,
mit welchen deine Haende um das Werden
sich rundeten, begrenzend, warm und weise.
Du sagtest leben laut und sterben leise
und wiederholtest immer wieder: Sein.
Doch vor dem ersten Tode kam der Mord.
Da ging ein Riss durch deine reifen Kreise
und ging ein Schrein
und riss die Stimmen fort,
die eben erst sich sammelten
um dich zu sagen,
um dich zu tragen
alles Abgrunds Bruecke –
Und was sie seither stammelten,
sind Stuecke
deines alten Namens.
***
I am living now at the turn of the century.
One feels the fanning of a large page being turned
high up in unknown hands
that God and You and I have written on.
One feels the luster of a new page
on which all things can come about.
Quiet powers survey its breadth
then look at each other with gloomy eyes.
I have read it in Your words,
in the history of the gestures,
with which Your hands cupped things
that were becoming, limiting them, warm and wise.
You said live loudly and die softly
and kept on repeating: to be.
But before the first death a murder took place.
Then Your ripened circle was rent
and a shrine was no more
and the voices were wrenched apart,
that had just been brought together
to proclaim You
to make of You a bridge
over the chasm of all things —
And what they have stammered ever since
are pieces
of Your old name.